Nasenringe aus Phosphor, in der Luft ein Hauch von Benzin (Shell-Jugendstudie 2010)

Datum: 15.09.2010 | Autor: Ansgar Warner | Kategorien: Texte | Tags: , , | Keine Kommentare »

shell jugendstudie 2010Es gibt vererbte Armut, genauso wie vererbten Reichtum. Natürlich ist die Erbmasse kulturell bestimmt, nicht genetisch. Doch für die Startchancen von Jugendlichen bedeutet das auf jeden Fall nichts gutes. Wie die aktuelle Shell-Jugendstudie zeigt, haben die Teenager der Generation Merkel die soziale Schere sogar schon im Kopf. Wenn das soziale Umfeld stimmt, ist auch die Chance recht hoch, dass die Mädchen und Jungen optimistisch in die Zukunft blicken. In bildungsfernen Schichten oder Migrationsfamilien dagegen wird eher ein düsteres Bild der Zukunft gezeichnet.

“Die Kluft zwischen den Milieus verstärkt sich“
“Die kleinen Mädchen aus der Vorstadt tragen heute Nasenringe aus Phosphor,
die Lippen sind blau, die Haare grün, Streichholzettiketten am Ohr”, sang Extrabreit in den Achtziger Jahren. Was die Mädchen und Jungen aus der Vorstadt dachten und denken, erfährt man in der alle vier Jahre aktualisierten Shell-Jugenstudie. Diesmal etwa das: Unter den sozial benachteiligten Jugendlichen sind nur 40 Prozent mit ihrem Leben zufrieden, deutlich weniger als in vorherigen Studien. Außerdem glauben auch nur 41 Prozent von ihnen, ihren Berufswunsch verwirklichen zu können. Die normalen Durchschnittswerte liegen bei 70 Prozent und sind sogar angestiegen, bei den sozial Benachteiligten Jugendlichen sind sie dagegen in den letzten Jahren weiter gesunken. „Die Kluft zwischen den Milieus hat sich mithin noch verstärkt“, so die Macher der Studie.

“Ich kann alles“ – „Ich kann gar nichts“
Natürlich könnte man jetzt sagen: okay, die Shell-Studie ist ja nur ein statistisches Stimmungsbarometer, das uns die mentalen Auswirkungen des sozialen Auseinanderdriftens zeigt. Die harten Fakten – also Zahlen zur Armuts- und Reichtumsverteilung selbst – findet man in anderen Studien. Doch so einfach ist es eben nicht. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, umgekehrt funktioniert’s aber leider auch. Was die Shell-Jugendstudien seit Ende der Neunziger Jahre zeigen, ist eine Verfestigung von positiven wie negativen Selbstzuschreibungen, die sich wiederum auf das Handeln auswirken. „Ich kann alles erreichen.“ – „Ich kann gar nichts erreichen“.

Im Kopf spukt das Gespenst der Armut
Dabei gibt es eigentlich schon genug positive wie negative Verstärker. Etwa in Form des dreigliedrigen Schulsystems. Etwa in Form der Benotung im Hinblick auf Beruf und sozialen Status der Eltern. Etwa in Form der Aussiebung von Jobaspiranten mit migrantischem Hintergrund. Jetzt spukt also auch noch das Gespenst der Armut in den Köpfen der Unterschicht, und macht die Jungen und Mädchen aus der Vorstadt zu unzeitgemäßen Außenseitern. Im Allgemeinen darf nämlich gelten: „Eine pragmatische Generation behauptet sich“. So ist die 16. Shell Jugenstudie überschrieben. Was die pragmatische Generation ganz besonders auszeichnet, ist ihre „starke Leistungsorientierung“.

In der Luft hängt ein Hauch von Benzin
Allerdings gelinge es, so der PR-Flyer, „nicht allen Jugendlichen, die optimistische und leistungsorientierte Grundhaltung gleich gut umzusetzen“. Denn “außen vor sind immer noch Kinder aus sozial benachteiligten Familien”. Die anderen dagegen wollen “tatkräftig und zupackend” ihre Zukunft in den Griff bekommen, sind am Aufstieg interessiert und suchen “individuelle Möglichkeiten, ihre Ziele umzusetzen.” Welche Ziele und Interessen die Mädchen und Jungen aus der Vorstadt stattdessen verfolgen, steht im PR-Flyer leider nicht. Bei der Feldforschung im Songtext von Extrabreit stieß ich allerdings auf einen Anfangsverdacht. “Aus den Jackentaschen ragen braune Flaschen, so sieht man sie durch die Straßen ziehn’ – überall, wo sie vorüber gehen, hängt in der Luft ein Hauch von Benzin.”



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